Am Wochenende waren Detlev und ich bei den Sachsen. Genauer gesagt in Frohnsdorf bei Mario Jessat und seinen Schäferhunden Vom Altenburger Land. Mario und Claudia hatten mich nach dem Seminar im Oktober in Naumburg eingeladen, einmal mit Carotte zu Ihnen nach Frohnsdorf zu kommen und dort mit meinem Riesenschnauzer und ihrem Rudel zu arbeiten. Dass ich an dem Wochenende außerdem noch zwei mir liebe Freundinnen sehen würde, war dann noch das I-Tüpfelchen obendrauf.
Vor dem Training ist nach dem Training
Carotte und ich sind seit dem letzten Seminar in Naumburg einen weiten Weg gekommen. Wir haben viel erreicht. Leinenführigkeit ist wieder eine Selbstverständlichkeit geworden. An anderen, angeleinten Hunden vorbeizugehen tatsächlich auch. Selbst dann, wenn die anderen Hunde vielleicht in die Leine springen oder pöbeln wie die armen Irren – solange die Hunde an der Leine sind, ich das Gefühl habe, ihre Leute können sie halten und die Leine auch kurz genug ist – kein Problem. Aber eben, man merkt es schon, das eigentliche Problem hängt am anderen Ende der Leine und solange das so ist, werde ich Carotte nie glaubhaft vormachen können, das wir zusammen gelassen durchs Leben laufen können. Denn, wie meine Schwester immer sagt, Carotte weiß schon, was ich denke, bevor ich selber weiß, was ich denken werde. Ich kann ihr einfach nichts vormachen. Selbst wenn ich glaube, es geht mir gut – Carotte weiß es einfach besser. Das Problem ist ganz alleine in meinem Kopf. Als ich 12 Jahre alt war, wurde in den Sommerferien die kleine Schwester einer Klassenkameradin ermordet, in den Wäldern meiner Kindheit, dort, wo ich oft mit meinen Freundinnen gespielt hatte. Darum habe ich einen Riesenschnauzer, weil ich endlich wieder in Wäldern allgemein und in diesen Wäldern speziell spazieren gehen können will – auch ohne dass ich ständig über meine Schulter gucke. Dieses Ziel habe ich erreicht. Ich gucke nicht mehr über meine Schulter, das hat Carotte übernommen. Sie hat ihre ganz eigene Vorstellung von Individualdistanz. Fremde Menschen und Hunde sind für sie erst einmal der erklärte Feind. Sie handelt da frei nach Methusalix: „Ich habe nichts gegen Fremde, einige meiner besten Freunde sind Fremde, aber diese Fremden sind nicht von hier.“ Zur Erklärung muss ich vielleicht noch anfügen das, bevor ich Carotte bekam, ein freilaufender Hund einen meiner Hunde tot gebissen hat. Einfach so. Mein Hund war an der Leine, taub, blind und schon sehr alt. Und dann wurde mir, einige Jahre später, auch noch zweimal mein Zwergschnauzer zerbissen. Beide Male von dem selben Hund. Auch freilaufend. Ich hatte immer gedacht, dass mir diese Ereignisse nicht nachhängen würden – Carotte hat dazu ganz offensichtlich eine andere Meinung. Sie kennt mich halt besser als ich. Und eben weil das Problem in meinem Kopf ist, hatte Claudia die Idee, dass ich noch mal nach Frohnsdorf kommen und Carotte mit Mario und seinen Schäferhunden zusammen arbeiten sollte. Ehrlich gesagt, ein bisschen gruselig fand ich die Idee ja schon – ich hatte mir oft genug schon ins Hemd gemacht, wenn mir nur ein einzelner Spaziergänger mit seinem Hund entgegen gekommen war – und jetzt ein ganzes Rudel? Aber auf der anderen Seite, no pain, no gain und mein erklärtes Ziel ist eben, einfach wieder entspannt spazieren gehen oder auch auf eine längere Wandertour mit meinen Hunden gehen zu können, ohne vorher zu überlegen, ob mir wohl ein Hunde entgegen kommen könnten oder nicht.
Die therapeutische Kraft des Rudels
Letztlich war alles gar nicht so schlimm, obwohl ich ehrlich zugeben muss, mir hat das Herz bis zum Hals geschlagen, als ich im Hundeauslauf stand und die ersten Hunde auf mich zugelaufen kamen. Die Aufgabe war einfach: „Platziere Carotte hinter dich und halte dir das Rudel vom Hals.“ Carotte hat da normalerweise so ihre eigene Vorstellung, die im wesentlichen darauf hinausläuft, mich zur Seite zu schubsen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nachdem ich das aber mit ihr geklärt hatte, lief es wirklich gut. Am Ende des Tages konnte Carotte sogar die Freuden des Hinter-mir-Laufens für sich entdecken. Das hätte ich eigentlich kaum mehr für möglich gehalten. Marios Rudel ist allerdings auch wirklich toll. Wer schon einmal einen Haufen Schäferhunde auf sich hat zulaufen sehen, der kann vielleicht verstehen, dass ich durchaus ein bisschen nervös war. Auf der anderen Seite war ich mir aber absolut sicher, dass im Zweifelsfall, wenn ich nicht in der Lage wäre, mir die Hunde vom Leib zu halten, Mario seine Hunde absolut im Griff haben würde. Es war natürlich ein Training für mich viel mehr als für Carotte. Sie wird nie ein Hund sein, der einer Auseinandersetzung aus dem Weg geht. Sie wird auch nie ein Hund sein, der es freiwillig toleriert, wenn ein anderer Hund ihre Individualdistanz unterschreitet. Und sie wird ganz sicher auch nie ein Hund sein, der fremde Menschen in meine Wohnung oder in mein Wohnmobil lässt, ohne wenigstens durch mehr oder weniger dezentes Knurren darauf hinzuweisen, dass jeder sich im Zweifelsfall mir ihr auseinanderzusetzen hat. Aber genau das liebe ich letztlich auch so an ihr – solange sie ihre Entscheidungen mit mir abspricht.
Das Ende
„Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende.“ Auch wenn dieses Zitat ganz zu unrecht immer dem großen Oscar Wilde zugeschrieben wird, ist es nicht weniger wahr. In meinem Fall ist tatsächlich alles gut, auch wenn es hoffentlich noch lange nicht das Ende ist von Carotte und mir. Wir alle haben in Frohnsdorf bei Mario und Claudia ein fantastisches Wochenende verbracht. Ich habe Mario und seine Hunde auf einem Rudelspaziergang erlebt. Ich habe viel gelernt. Unter anderem zum Beispiel auch dass es nicht gut ist, polnischen Wodka auf Ex zu trinken und darauf noch eine Zigarette zu rauchen, dass Detlev einen FI-Schalter in seinem Kleiderschrank hat, dass es eben schlicht an diesem kleinen Schalter liegen könnte, wenn auf einmal die Elektrik im Wohnmobil versagt und dass es am nicht vorhandenen Wasser liegen könnte, wenn die Wasserpumpe nicht funktioniert. Carotte und ich jedenfalls betrachten einander seit dem Wochenende mit anderen Augen. Ich sehe sie für das, was sie ist: Mein Riesenmädchen, das ohne Bedenken in jeder Situation für mich die Kohlen aus dem Feuer holen würde und mich gegen jede finstere und eben auch nicht finsteren Mächte dieser Welt verteidigen würde. Auf der anderen Seite hat Carotte erlebt, dass ich es tatsächlich schaffe, ihr ein Rudel Schäferhunde vom Leib zu halten. Dass Mario da so ganz subtil seine Fäden im Hintergrund in der Hand hielt, tut da ja nichts zur Sache… tatsächlich glaube ich, schwankte Carotte am Ende des Trainings zwischen Bewunderung und dem Wunsch, endlich aus dem Spieleparadies abgeholt zu werden. Die Freuden des Hinter-mir-Laufens jedenfalls sind Carotte auch in Bremen erhalten geblieben. Bei jeder Hundebegegnung reiht sie sich freiwillig hinter mir ein und geht vorbei, ganz ohne Absingen schmutziger Lieder.
Und Digger?
Der soll hier nicht vergessen werden. Digger ist einfach ein Schatz. Der weltbeste Border Collie, mein kleiner Nerd, mein Streber, ein toller Hund. Und wie es mit meinem kleinen Nerd so ist, er hat sich Carotte einfach angepasst. Carotte ordnet sich in Hundebegegnungen hinter mir ein – dann macht Digger es halt auch. Carotte überlässt die Verantwortung für Hundebegegnungen mir – dann hält Digger es auch so. Carotte ist halt seine Gouvernante, der Hund, der ihn großgezogen hat. Was für sie recht ist, ist für ihn nur billig.
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